Samstag, 2. Juli 2011

Ein Tag wie jeder andere Teil 2

Es folgt der 2. Teil meiner Kurzgeschichte. Teil 1 ist *hier* zu finden.

Ich nehme die Schüssel entgegen und probiere. Der Geschmack explodiert auf meiner Zunge.

Es fühlt sich gut an. Viel zu gut. 

Am liebsten würde ich es wieder ausspucken. Ich will diese Köstlichkeit nicht schmecken. Ich darf es nicht essen. Ich kann es nicht runterschlucken. Trotzdem schlucke ich. Und obwohl ich versuche, mich zu zwingen, das Schälchen wegzustellen, gehorchen meine Arme nicht und nehmen noch einen Löffel. Und noch einen. Mein Hals schnürt sich zu. 

Ich darf nicht die Kontrolle verlieren. 

Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht, wenn ich unter Leuten bin.
Ich greife nach meiner Wasserflasche, trinke einige Schlucke und stehe auf.
„Ich muss aufs Klo. Das viele Wasser...“, murmle ich als Entschuldigung, bevor ich vom Tisch verschwinde.

Auf dem Klo trinke ich noch mehr Wasser. Ungefähr einen halben Liter. Dann krame ich in meiner Tasche nach Pfefferminzkaugummis und stecke mir zwei in den Mund. Der Geschmack von Apfelmus ist verschwunden. Nur noch Pfefferminz ist da. Ich atme erleichtert aus.

Es ist nichts passiert. Niemand hat etwas gemerkt. 
Doch eigentlich belüge ich mich selbst. 

Weiß ich nicht, dass meine besten Freundinnen längst gemerkt haben, dass etwas nicht stimmt? 
Dass sie mich immer komisch ansehen, wenn ich das Essen ewig auf meinem Teller herumschiebe und behaupte, keinen Hunger mehr zu haben, obwohl ich nur drei Bissen genommen habe? 

Sie wissen es, davon bin ich überzeugt. Aber sie sagen nichts. Sie nehmen meine Lügen an, obwohl sie mich durchschauen. Vielleicht warten sie nur auch den richtigen Tag, um mich festzunageln. 

Das darf ich nicht zulassen. 

Sie dürfen mich nicht bloßstellen, mein Geheimnis aufdecken. 
Als es klingelt, gehe ich wie in Trance zur nächsten Stunde. Meine Gedanken hängen noch beim Essen.

Am Nachmittag ist Sport. Ich hasse Schulsport. Wir spielen Basketball. Ich fühle mich völlig fehl am Platz mit meiner Jogginghose und dem weitem T-Shirt. Niemand will mich in seiner Mannschaft. Sie wissen, dass ich schwach bin. Dass ich zerbrechlich bin. Dass ich nicht genug Kraft habe, die Bälle zu spielen.
Ich werde als letztes gewählt. Es tut nicht mehr weh, wenn das passiert. Ich war schon immer unsportlich und mit den Jahren wird das okay. Beim Spiel halte ich mich am Rand, laufe ein bisschen hin und her und tue zumindest so als würde ich mitspielen. 

Dann pralle ich mit einem Mitspieler zusammen und gehe zu Boden. Die Stelle, an der wir zusammengestoßen sind, tut weh und pocht. Das Atmen fällt mir plötzlich schwer. Er entschuldigt sich und will mir aufhelfen. Ich greife nach seiner Hand, aber als er mein Handgelenk umfasst, fühlt es sich so an, als würde er mir das Handgelenk brechen. Ich will aufschreien, halte mich aber zurück, beiße mir still auf die Zunge. 

Ich scheine nicht für diese Welt gemacht, in der sich alle Berührungen wie Schläge anfühlen. 
Aber bin ich da nicht selbst schuld? Hab ich mich nicht selbst hierhin gebracht? 

Die restliche Sportstunde sitze ich auf der Bank. Das Gesicht rot vor Scham.

Ich bin froh, als die Schule endlich vorbei ist. Der Bus ist nicht mehr so voll wie am Morgen, aber trotzdem habe ich Stöpsel in den Ohren und die Musik voll aufgedreht. Eine Halstestelle zu früh steige ich aus. Den Rest will ich zu Fuß gehen. Mehr Bewegung. Mehr verbrannte Kalorien.
Es regnet nicht mehr, stattdessen steht die Sonne tief am Himmel und wirft Schatten. Ich betrachte meinen Schatten. Es gefällt mir wie das Licht meinen Körper umspielt und die Strahlen durch die Lücke zwischen meinen Beinen hindurchschlüpfen. Mein Schatten gefällt mir viel besser als mein eigenes Ich.

Am Abend drücke ich mich vor dem Abendessen. Mein Magen hat einen Knoten, ich kann gar nicht mehr viel essen. Vor allem nicht am Abend. Alles, was man abends isst, setzt an. Ich will nicht abends essen. Ich kann es gar nicht mehr. Ich habe verlernt, richtig zu essen.

Dunkelheit umhüllt mich, während ich an meinen Hausaufgaben sitze. Ich betrachte meine Arme. Blass, lila verfärbt, jede Ader ist zu sehen. Wer findet das schon schön? Wer findet das Knochengerüst schön, dass ich darstelle? Und wer findet gleichzeitig diesen Haufen Fett schön? Ich weiß es nicht. Kann es nicht verstehen. Kann mich nicht verstehen.

Ich gehe ins Badezimmer, ziehe mich aus und stelle mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf die Waage. Nicht zugenommen. Gut. Das beruhigt mich. Ich hatte Angst, auf die Waage zu gehen und zu sehen, dass ich wegen dem Apfelmus zugenommen habe. Aber es ist in Ordnung.

Alles ist in Ordnung. 

Ich muss keine Angst mehr haben. der Spiegel hält meinen Blick fest. Ich sehe mich an. Sehe mich richtig an. Sehe die Rippen, die sich zu erkennen geben. Ich fühle mit den Fingern, kann sie tatsächlich spüren. Sehe meine Hüftknochen, die blasse Haut, wie Papier. Mein Spiegelbild gruselt mich. Es macht mir Angst. Nur Essen macht mir noch mehr Angst.

Ich ziehe meinen Schlafanzug an und husche ins Bett. Mir ist kalt. Meine Hände und Füße sind kalt. Die Kälte hat sich in meine Knochen geschlichen und frisst sich durch meinen Körper. Unter der Decke rolle ich mich fest zusammen, halte mich selbst fest. Alles ist in Ordnung.

Es war nur ein Tag wie jeder andere auch.

1 Kommentar:

- Isabel - hat gesagt…

Richtig gut geschrieben :)
Tolle Kurzgeschichte!