Ich stehe in den Straßen von Port Louis und sehe mich um.
Alles sieht so normal aus. Nichts scheint sich verändert zu haben. Und doch ist
etwas anders.
Ich schließe die Augen und erinnere mich. Vor einer Woche
war ich hier. Vor einer Woche, die mich verändert hat. Vor meinem inneren Auge
sehe ich den Regen. Hart prasselt er auf den Asphalt. Ich sehe das ganze
Wasser. Wasser, das die Berge hinab schießt und alles mit reißt. Ich ertrage
diese Gedanken nicht.
Vor einer Woche war ich hier. Fröhlich gut gelaunt. Der
Regen störte mich nicht.
„Wir sind doch nicht aus Zucker“, sagte ich lachend und lief
durch die dicken Pfützen. Meine Flip-Flops waren durchnässt, meine Beine
ebenfalls nass. Dicke Regentropfen liefen mir die Stirn herunter. Ich komme aus
einer Stadt, in der es viel regnet, also sollte mir das bisschen Regen in Port
Louis nichts ausmachen. Dachte ich.
Ich saß in einem Kaffee, trank Cappuccino. Ich weiß es noch
genau. Der Regen klatschte unaufhörlich auf die Straßen und die Dächer. Meine
Laune war gut, ich lachte, langweilte mich vielleicht etwas, weil ich endlich
nach Hause wollte. Aber ich hatte keine Angst, dass etwas passieren könnte.
Erst später dämmerte mir, dass hinter meinem Rücken eine
Katastrophe passiert war. Auf den Straßen stand das Wasser hüfthoch. Autos
wurden weggeschwemmt. Menschen riefen. Überall das schlammige braune Wasser.
Ein reißender Strom. Meine Gedanken fielen übereinander her, zerrissen sich in
meinem Kopf. Doch ganz deutlich spürte ich die Angst. „Hoffentlich ist
niemandem etwas passiert“, dachte ich. Aber mein mulmiges Gefühl trog mich
nicht. Später erfuhr ich durch das Radio, dass Menschen gestorben waren. Ich
verstand die Meldung nicht genau, denn mein französisch ist nicht das Beste,
aber ich hörte das Wort, das mich verstehen ließ: „Mort.“ Tod.
Ich sah die Straßen vor mir. Überall Wasserpfützen, Schutt
und Geröll, Pflanzen zwischen Zäunen hängen geblieben, aufgerissener Asphalt.
Natürlich habe ich schon oft über Katastrophen gehört. Wie
so viele andere Menschen auch, ziehen mich solche Meldungen an. Es ist wie bei
einem Unfall. Es ist so schrecklich, aber man kann auch nicht weg sehen. So
ging es mir. Ich wollte das alles nicht sehen. Die Autos, die sich stapelten,
mitgerissen von der Flut, die Menschenmassen, die die Straßen entlang
schlichen.
Hinterher sah ich die Videos im Internet. Menschen, die von
den reißenden Fluten mitgerissen wurden, Berge hinuntergeschwemmt wurden. Tot.
Die überflutete Unterführung. Alleine 6 Menschen ertranken dort. Und ich? Ich
saß nur wenige Meter weiter und trank Kaffee.
Ich weiß nicht, was das Schlimmste ist. Bei einer
Naturkatastrophe dabei gewesen zu sein oder einfach nichts von allem
mitbekommen zu haben. Menschen starben hinter meinem Rücken und ich saß einfach
nur da und merkte nichts von allem. Es war doch nur ein bisschen Regen…
Und was wäre gewesen, wenn ich mich entschlossen hätte durch
die Unterführung zu gehen? Ein bisschen Schutz vor dem Regen zu suchen? Das
Wasser muss so hineingeschossen sein, dass die Menschen darin eingesperrt
waren, wie in einer Falle. Das hätte mir auch passieren können.
Meine Hände berühren meinen Hals, ich fühle das goldene
Kreuz, das an einer Kette hängt. Ein Geschenk meiner Oma zur Kommunion. War es
Gott, der mich gerettet hat? War es Gott, der mich in einem Café festhielt,
damit ich das Grauen nicht mit ansehen musste? Ich weiß es nicht.
Wieder sehe ich mich um. Alles scheint so normal. Früher
habe ich mich immer gefragt, wie Menschen nach einer Katastrophe einfach weiter
machen können. Heute verstehe ich, dass sie einfach weiter machen müssen.
Stillstand ist tot.
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